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Träumereien vom »siegreichen« Atomkrieg gegen Russland

10. März 2017

Exklusiv: Washingtons offizielle Anti-Russland-Hysterie hat die amerikanische Politik entstellt und das Risiko eines Atomkriegs eskalieren lassen – träumen die US-amerikanischen Kriegsplaner doch davon, bei einem Erstschlag gegen Russland als »Sieger« hervorzugehen, wie Jonathan Marshall berichtet.

Von Jonathan Marshall

Operation Redwing

Eine Aufnahme der US-Regierung: Die Atomexplosion der Operation Redwing’s Apache am 9. Juli 1956.

Im Jahr 1961 hatten ehemalige Pentagon-Berater einen 33seitigen Plan vorgelegt, wie ein Atomkrieg gegen die Sowjetunion auszulösen – und zu gewinnen – sei. Grundlage waren Geheiminformationen, dass die atomaren Streitkräfte der Sowjetunion zahlenmäßig schwach und schlecht geschützt seien – so dass sie ein leichtes Ziel für einen Erstschlag der USA darstellten.

Von der Überlegenheit der Vereinigten Staaten überzeugt, begannen die Stabschefs Präsident John F. Kennedy dahingehend zu beraten, einen Atomkrieg gegen Kuba und Vietnam zu riskieren – obgleich ihre eigenen Analysen zugeben mussten, dass im Fall eines Fehlschlags 75 % der Amerikaner sterben könnten. Hätte JFK ihren Rat nicht abgelehnt, wären wir heute vielleicht nicht mehr hier.

Präsident Trump könnte bald vor einem ähnlichen Test stehen. Von der Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt hat das Atomprogramm des Pentagons beispiellose Kapazitäten aufgebaut, die es erneut möglich machen, über einen Erstschlag der USA Russlands Atomwaffenarsenal zu zerstören und seine Führung zu »enthaupten«. Je verletzlicher Russland gegenüber den Atomwaffen der USA ist, desto engagierter drängen die Falken in Richtung aggressiverer Maßnahmen gegenüber Russland.

Eine neue, erschreckende Analyse für das Bulletin of the Atomic Scientists – von drei herausragenden Experten für strategische Waffen aus der Federation of American Scientists, dem Natural Resources Defence Council und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) – belegt, dass die amerikanischen Atomplaner »revolutionär neue Technologien mit drastisch gesteigerter Zielgenauigkeit des amerikanischen Arsenals ballistischer Raketen installiert haben«, was ihnen erstmals seit Jahrzehnten wieder »die Möglichkeit gibt, einen Atomkrieg, der den Feind mit einem überraschenden Erstschlag entwaffnet, zu führen und zu gewinnen«.

Der »Superzünder« der US-Navy

Mitte der 1960er-Jahre schien das Konzept atomarer Überlegenheit an Bedeutung zu verlieren, als Moskau sein atomares Waffenarsenal weit genug ausgebaut hatte, um einem Angriff standhalten zu können. Mit Beginn der Nixon-Ära sorgten Waffenkontrollverträge einigermaßen für ein Gleichgewicht der amerikanischen und russischen Atomwaffen, was beide Seiten davon abhielt, im Einsatz von Atomwaffen irgendetwas anderes zu sehen als Abschreckung.

President John F. Kennedy

Präsident John F. Kennedy spricht zur Nation über die Kubakrise (Oktober 1962)

Klammheimlich jedoch haben die Fortschritte der US-Technologie gegenseitige Abschreckung erneut in Frage gestellt. Das Geheimnis ist ein »Superzünder«, den die US-Marine erstmals 2009 als Teil des Programms zur »Lebensverlängerung« von U-Boot-gestützten Atomraketen eingesetzt hat. Mit diesem flexibleren Auslösemechanismus kann der Zeitpunkt einer Atomexplosion deutlich präziser bestimmt werden – was die Zerstörungskraft von unter Wasser abgeschossenen US-Raketen verdreifacht: genug, um sogar »gehärtete« russische Raketensilos und Kommandozentralen mit großer Erfolgschance auszulöschen.

Die Autoren schätzen, dass schon 272 Sprengköpfe genügen, um alle in gehärteten Silos gebunkerten russischen Interkontinentalraketen zu zerstören – wobei über 600 der tödlichen, auf amerikanischen U-Booten verteilten Sprengköpfe unangetastet blieben, von Hunderten bodenstationierten amerikanischen Raketen ganz zu schweigen.

Obwohl die US-Kriegsplaner immer noch vor der Herausforderung stünden, ihre Sprengköpfe genau auf Russlands U-Boote und mobile Landraketen auszurichten, unterstützen die Autoren die These anderer Experten, dass »die Vereinigten Staaten zum ersten Mal seit fast 50 Jahren an der Schwelle zu atomarer Vormachtstellung stehen«. Russlands Verletzbarkeit wird mit der Zeit wahrscheinlich größer, wenn das Pentagon in den nächsten 30 Jahren sein geplantes Billionen-Dollar-»Atom-Modernisierungs«-Programm umsetzen wird.

Aus Sicht vieler Pentagon-Planer sind größere Kriegsführungsfähigkeiten immer von Vorteil, da sie die Möglichkeiten des US-Militärs erweitern. Es gibt aber gute Gründe, über diesen heimlichen Fortschritt der US-Raketentechnologie besorgt zu sein.

Vorsicht vor den »Einflüsterern«

Erstens besteht das Risiko, dass ein Einflüsterer – ein überzeugter Verfechter des »begrenzten« Atomkriegs – einen Präsidenten davon überzeugt, dass es möglich sei, solch einen Konflikt auszufechten und zu gewinnen. Das könnte den Präsidenten dazu verleiten, sich in einem konventionellen Konflikt unbesonnen zu verhalten und eine militärische Eskalation auszulösen, die unbeabsichtigt zur Massenvernichtung führt. (Man stelle sich nur einmal vor, Präsident Kennedy hätte den Rat seiner Generäle befolgt und während der Kubakrise 1962 die russischen Streitkräfte bombardiert.)

President Donald Trump

Präsident Donald Trump verkündet am 20. Februar 2017 die Wahl von Gen. H.R. McMaster als seinen neuen Berater für nationale Sicherheit (Bildschirmfoto von Whitehouse.gov)

Bis vor kurzem schien die Idee völlig absurd, ein Berater würde versuchen, Präsident Trump zu einem atomaren Showdown zu veranlassen. Aber die zunehmende militärische Spannung zwischen der NATO und Russland hat Experten wie den früheren Verteidigungs-Sekretär William Perry zu der Warnung veranlasst, dass die Welt einer »atomaren Katastrophe« näher sei als irgendwann während des Kalten Krieges. Und jetzt erklärt Trump selbst, der einst zu größerer Zusammenarbeit mit Russland aufrief, die Vereinigten Staaten müssten ihr Atomwaffenarsenal aufrüsten, um » Spitzenreiter« zu werden.

In Anbetracht dieser neuen verhärteten Fronten riet das einflussreiche Defense Science Board im Dezember der neuen Regierung, mit der Anschaffung niedrigschwelliger Atomwaffen zu beginnen, um den Vereinigten Staaten mehr Möglichkeiten zu verschaffen, »begrenzte« Kriege gegen andere Atommächte zu führen. Die Annahme hinter solch einem heiß umstrittenen Rat ist, dass Feinde sich zurückziehen würden, wenn sie wüssten, dass die Vereinigten Staaten einen unbegrenzten Atomkrieg mit »akzeptablen« Verlusten führen und gewinnen könnten.

Wachsende Gefahr eines versehentlichen Krieges
Zweitens – und vielleicht noch besorgniserregender – ist der Einfluss der amerikanischen Erstschlagskapazität auf die russische Atomplanung. Angesichts der Möglichkeit eines verheerenden US-Angriffs mit nur wenigen Minuten Vorwarnung wird Moskau seine Atomkräfte in höchster Alarmbereitschaft halten und örtliche Kommandeure sogar befugen, einen Abschuss freizugeben, falls die Kommunikation mit Moskau abbricht. Diese Regelung eröffnet die erschreckende Möglichkeit, dass ein Atomkrieg durch bloßen Fehlalarm ausgelöst wird – wovon es schon einige gab.

Russian President Vladimir Putin

Russlands Präsident Vladimir Putin während eines Staatsbesuchs in Österreich am 24. Juni 2014 (offizielles Foto der russischen Regierung)

»Die neue Vernichtungskraft durch Superzünder erhöht die Spannung und das Risiko, dass amerikanische oder russische Atomwaffen als Reaktion auf eine Frühwarnung eingesetzt werden – selbst wenn kein Angriff eintrat«, schreiben die Waffenexperten. »Die Kombination von … gefährlich kurzer Vorwarnzeit, höchster Alarmbereitschaft und der wachsenden Erstschlagkapazität der USA hat zu einer äußerst destabilisierenden und nuklear-strategisch gefährlichen Situation geführt.«

Fakt ist: Während die Atomkraft der USA klammheimlich gewachsen ist, hat Russland die Zeit von Warnung bis Abschuss auf knappe vier Minuten verkürzt. »Heute können oberste Militärposten in der Moskauer Umgebung die gesamte menschliche Kommandokette umgehen und ferngesteuerte, in Silos gebunkerte oder selbst in Sibirien auf Sattelschleppern montierte Raketen in weniger als 20 Sekunden abschießen«, berichtet Bruce Blair, Experte der Princeton University. »Das heißt: Uns droht ständig die lauernde Gefahr eines versehentlichen Raketenstarts.«

Blair warnte kürzlich davor, dass Präsident Trumps offensichtliche Unterstützung eines erneuten Wettrüstens »nach jahrzehntelanger atomarer Abrüstung eine alarmierende Kehrtwende wäre, die jedem Angst machen sollte«.

Und Senatorin Dianne Feinstein, Kalifornien, zeigte sich angesichts der zunehmenden Gespräche in Washington über atomare Kriegsführung so besorgt, das sie letzte Woche in der Washington Post einen offenen Brief veröffentlichte, der die Leser daran erinnerte, »dass es so etwas wie einen ›begrenzten Einsatz‹ atomarer Waffen nicht gibt und es völlig inakzeptabel ist, wie der Beraterstab des Pentagons deren Weiterentwicklung fördert«.

Ihr weiser Rat: »Wenn es um Atomwaffen geht, wird Sieg nicht daran gemessen, wer die meisten Sprengköpfe hat, sondern wie lange wir leben dürfen, bevor jemand sie einsetzt.«

Jonathan Marshall ist Autor vieler jüngster Artikel zu Waffenthemen, darunter Obama’s Unkept Promise on Nuclear War, Summing Up Russia’s Real Nuclear Fears, How World War III Could Start, NATO’s Provocative Anti-Russian Moves, Escalations in a New Cold War und Ticking Closer to Midnight.

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https://consortiumnews.com/2017/03/10/dreams-of-winning-nuclear-war-on-russia/