Anmerkung: Dieser vor kurzem in der New York Times erschienene Artikel unterstreicht die Ernsthaftigkeit der Bedrohung durch den Klimawandel und die eventuell daraus resultierenden Bevölkerungsverschiebungen.
— John Hagelin, Präsident

Schnellster Anstieg der Meeresspiegel seit 28 Jahrhunderten

Von JUSTIN GILLIS, 22. Februar 2016

Juan Carlos Sanchez

Letztes Jahr in Miami Beach: Juan Carlos Sanchez paddelt mit seinen Schuhen ein Kajak über eine überflutete Straße

Die zunehmenden Überflutungen in amerikanischen Küstengemeinden ist weitgehend eine Folge der vom Menschen produzierten Treibhausgase. Ein Problem, das in den kommenden Jahrzehnten noch zunehmen wird, sagten Wissenschaftler am Montag. Es sind die Emissionen, vor allem aus der fossilen Verbrennung, die den Meeresspiegel nach Meinung der Wissenschaftler schneller ansteigen lassen als jemals zuvor seit der Gründung des alten Rom. Sie fügten hinzu, dass ohne diese menschlichen Emissionen der Meeresspiegel weniger schnell ansteigen oder sogar fallen würde.

Die immer regelmäßigeren Überschwemmungen durch die Gezeiten machen das Leben in Städten wie Miami Beach, Charleston und Norfolk sogar an sonnigen Tagen immer unangenehmer.

Obwohl oft nur 30 cm hoch, belasten diese Überschwemmungen durch das stehende Salzwasser schon vielerorts das Leben. Rasen und Bäume sterben ab, Nebenstraßen werden blockiert und die Gullys verstopft. Sie verschmutzen die Süßwasser-Versorgung und schneiden manchmal stundenlang ganze Inselgemeinden von der Außenwelt ab: Straßen, die sie mit dem Festland verbinden, werden überflutet.


Solche Ereignisse sind jedoch nur frühe Vorläufer kommender Schäden, wie neue Forschungen nahelegen.

 »Wir brauchen einen neuen Ansatz, um über Küstenüberschwemmungen nachzudenken«, sagte Benjamin H. Strauss, der Erstautor einer von zwei am Montag veröffentlichten Studien. »Es ist nicht die Flut. Es ist nicht der Wind. Wir sind es. Das gilt für die meisten Küstenfluten, die wir zur Zeit erleben.«



In der zweiten Studie haben die Wissenschaftler den Meeresspiegel der Vergangenheit rekonstruiert und bestätigt, dass er höchstwahrscheinlich schneller als in den vergangenen 28 Jahrhunderten steigen wird – wobei der Anstieg im vergangenen Jahrhundert stark zugenommen hat. Höchstwahrscheinlich werde die von den Wissenschaftlern vorausgesagte Erwärmung durch Emissionen des Menschen verursacht.

Sie bestätigten auch frühere Prognosen, nach denen die Ozeane bis zum Jahr 2100 um 90 bis 120 Zentimeter ansteigen könnten, wenn die Emissionen weiter so stark zunehmen.


Im 22. Jahrhundert und danach würde nach Meinung der Experten die Situation dann noch viel schlimmer werden und zur Aufgabe vieler Küstenstädte zwingen.

Die Erkenntnisse sind nur ein weiteres Indiz dafür, dass das stabile Klima, das seit Jahrtausenden eine Blüte der menschlichen Zivilisation ermöglicht hatte, seinem Ende zugeht. Das Meer werde unberechenbarer und erlaube das Wachstum großer Küstenstädte immer weniger.


»Ich denke, wir können auf jeden Fall sicher sein, dass der Anstieg des Meeresspiegels sich weiter beschleunigen wird, wenn sich die Erwärmung fortsetzt – und das wird sie unweigerlich tun«, sagte Stefan Rahmstorf, Professor für Ozeanphysik am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung Deutschland, und Co-Autor einer der Studien, die von der amerikanischen Zeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences online veröffentlicht wurde.


Diese wissenschaftliche Arbeit wird durch einen Bericht der Klimaforschungs- und Kommunikationsorganisation »Climate Central«, Princeton, New Jersey, USA, unterstützt. Sie errechneten auf Grundlage dieser neuen Erkenntnisse, dass in den Städten der US-Ostküste etwa drei Viertel der heutigen Überflutungen nicht stattfänden, gäbe es nicht den durch menschliche Emissionen verursachten Meeresspiegelanstieg.


Nach Ansicht des federführenden Autors dieses Berichtes, Dr. Strauss, trifft dies auch global zu, für jede Küstengemeinde, die in den letzten Jahrzehnten einer Zunahme von Überflutungen durch Salzwasser ausgesetzt war.

Der Anstieg des Meeresspiegels trägt jedoch nur in begrenztem Maße zu den riesigen, katastrophalen Sturmfluten bei, die Hurrikans wie »Katrina« und »Sandy« begleiteten. Umso mehr aber trägt er zu unangenehmen Überschwemmungen bei, wie sie die Folge übergroßer Gezeitenwellen, sogenannter Springfluten, sind.


Auffallend ist die Veränderung der Häufigkeit dieser Springfluten. Während Gezeitenmessgeräte in Annapolis von 1955 bis 1964 32 Überschwemmungstage gemessen hatten, waren es in den Jahren 2005 bis 2014 bereits 394 Tage.


In Charleston sprang die Zahl der Überschwemmungstage von 34 im vergangenen Jahrzehnt auf 219 in der neueren Zeit und in Key West, Florida, von null auf 32 Überschwemmungen.

Die neuen Forschungen wurden von Dr. Robert E. Kopp geleitet, einem renommierten Geowissenschaftler der Rutgers Universität, dessen detaillierte statistischen Methoden ein Verständnis langjähriger Probleme wie die Entwicklung des globalen Meeresspiegels ermöglichten.

Aufgrund umfangreicher geologischer Fakten war den Wissenschaftlern bereits bekannt, dass der Meeresspiegel am Ende der letzten Eiszeit drastisch anstieg – um fast 120 Meter –, sodass sich die Ufer bis zu 150 Kilometer in das Landesinnere zurückzogen. Sie wussten auch, dass sich der Meeresspiegel und das Klima in den vergangenen Jahrtausenden, also in der Zeit der Entstehung der menschlichen Zivilisation, weitgehend stabilisiert hatten.

Aber es gab in diesem Zeitraum auch kleinere Schwankungen sowohl klimatisch als auch beim Meeresspiegel, und die neue Studie ist der bisher eingehendste Erklärungsversuch dazu.

Die Untersuchung zeigt, dass der Ozean sehr sensibel gegenüber kleinen Schwankungen der Erdtemperatur ist. Es stellte sich heraus, dass im Mittelalter der Rückgang der mittleren Globaltemperatur um ein Drittel Grad Celsius den Meeresspiegel um etwa acht Zentimeter sinken ließ: in 400 Jahren. Als sich das Klima leicht erwärmte, kehrte sich dieser Trend um.


»Die Physik lehrt uns, dass die Schwankungen des Meeresspiegels und der Temperaturwechsel Hand in Hand gehen«, sagte Dr. Kopp. »Die neuen geologischen Daten bestätigen das.«


Während der industriellen Revolution im neunzehnten Jahrhundert begann der Ozean sofort zu steigen, seit 1880 um etwa zwanzig Zentimeter. Das klingt zwar nicht viel, hatte aber weltweit eine hohe Bodenerosion und Milliardenkosten zur Folge.


Hauptsächlich menschliche Emissionen ließen die Erdtemperatur seit dem 19. Jahrhundert um etwa 16 Grad Celsius steigen. Der Meeresspiegel steigt seither mit wachsender Geschwindigkeit, um etwa 30 cm pro Jahrhundert.


Einer der Autoren der neuen Arbeit, Dr. Rahmstorf, hatte zuvor Schätzungen veröffentlicht, nach denen bis 2100 der Meeresspiegel bis zu 150 oder 180 Zentimeter ansteigen könnte. Aber mit den verbesserten Berechnungen der neuen Studie hält er 90 bis 120 Zentimeter für realistisch.

Damit steht die Prognose von Dr. Rahmstorf in Einklang mit den Berechnungen des »Intergovernmental Panel on Climate Change« von 2013, einer Organisation der Vereinten Nationen, die regelmäßig die Forschungen zum Klimawandel prüft und zusammenfasst. Diese stellte fest, dass anhaltend hohe Emissionen im 21. Jahrhundert einen Meeresspiegelanstieg von 50 bis 100 Zentimeter bewirken könnten.

In einem Interview sagte Dr. Rahmstorf, dass der Anstieg 150 cm übersteigen könnte – die Frage sei nur, wie lange das dauern würde. Die Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die jüngste Klimaschutzvereinbarung von Paris nicht ehrgeizig genug sei, um ein beträchtliches Schmelzen des Eises in Grönland und der Antarktis zu verhindern. Bei einer vollständigen Umsetzung könnte das Tempo jedoch etwas verlangsamt werden.


»Eis schmilzt einfach schneller, wenn die Temperaturen steigen«, so Dr. Rahmstorf. »Das ist einfach grundlegende Physik.«

http://www.nytimes.com/2016/02/23/science/sea-level-rise-global-warming-climate-change.html?_r=1